MANFRED CARPENTIER | TEXTE | WWW.MANFRED-CARPENTIER.DE

Texte

© Foto: Jan Sobottka | www.catonbed.de

Ich bin kein Schriftsteller. Es ist jetzt über vierzig Jahre her, dass ich dieses Feld geräumt habe. Es mangelt wohl an innerer Überzeugung, an ausreichendem Leidensdruck und an entwicklungsfähigem Talent. Heute beschränke ich mich bei meinen Texten darauf, nicht einer getwittert hingerotzten Belanglosigkeit zu frönen und dabei orthographische Fehler zu vermeiden. Die Texte entstehen im allgemeinen im Rahmen eines Publikationsvorhabens mit eigenen fotografischen Arbeiten und sind ihnen gleichwertig zugesellt.

Hier stehen jetzt die Texte weitgehend unbebildert da und dürfen standhalten.

Manfred Carpentier, 2016

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Karin Bandelin : Verstörende Gewissheit

© Foto: Manfred Carpentier | www.manfred-carpentier.de

Karin Bandelin : Verstörende Gewissheit

Ist es eine Art Minnedienst? Nein. Wie kann man einer äußerst zartgliedrigen Frau mit widerborstiger und rötlicher Frisur einen Wunsch abschlagen. Noch dazu, wenn sie im Gegenlicht einer sich verabschiedenden Sonne hinter den Mauern eines ehemaligen Frauengefängnisses steht, mit frisch geschminkten Lippen, die nichts anderes darstellen, als ihre so zur Schau getragenen und wohlbehüteten Schwestern, die mit einer gewissen Restfeuchte elegant ihr Dasein fristen unter vermutlich teurer und gehobener Schneiderei aus Tuch und Spitze. »Kannst Du mir einen Text schreiben«, so hieß erst die Bitte, der darauf prompt der Imperativ folgte. Frau eben, die mit geschickter Tarnung und ermüdender Ausdauer ihre Ziele verfolgt. Womit wir beim Eigentlichen sind. Hier geht es um Film, um Video. Als mäßig erfolgreicher Galerist weiß man: Wer unbekannt bleiben will und über ausreichende Einnahmequellen verfügt, die (der) versuche sich bitte mit VIDEOKUNST. Private Ankäufe sind hier platzende Chimären, Museen fehlt es an Etat und den anderen öffentlichen Einrichtungen an Verstand. Was folgt, ist Masturbation. Die eine ergießt sich in volkshochschulartigen Konstruktionen mit geradezu unersättlicher und zwanghafter Wiederholung, die hoffentlich danach zur Selbsterkenntnis kommt, sie sei, wie die richtige, eigentlich nicht notwendig gewesen. Die andere ergießt sich in Singuläres und Schattendasein, mit Glück und Vermögen in Phänotypisches. Die Welt der Mutigen: Womit wir bei Karin Bandelin wären. Sie fertigt seit vielen Jahren Videos. Es sind, neben dem künstlerischen Anspruch und Qualität, eben auch Existenzbeweise, die nur diejenigen brauchen, die dem Vergessen-Werden und der routinierten Sinnlosigkeit ihrer beruflichen Etabliertheit etwas entgegenstellen wollen, nein: müssen! Und dabei ist weniger das Publikum der Adressat dieser Arbeit, als vielmehr die Produzentin selbst, die sich ihrer selbst vergewissern muss; es ist quasi eine Art intellektuelles Pulsfühlen. Für dieses Pulsfühlen hat Karin Bandelin bei diesem Video den Titel »Am Grunewaldsee — danach« gewählt. Entstanden ist die Arbeit 2007 und Karin Bandelin verwendet bei der technischen Beschreibung dieses Videos den Hinweis, dass es als Loop gesehen werden kann und wohl auch soll. Mithin handelt es sich um etwas, das zwar einen Anfang und ein Ende hat, aber durch technische Mittel quasi endlos wiederholt wird. Damit entfaltet dieses Video eine Mächtigkeit, die den Betrachter zur Komtemplation, also zur einer intuitiven Erkenntnis führt. Ärgerlich empfinde ich allerdings dann den völlig überflüssigen Versuch einer Legitimierung dieser Arbeit durch Referenznennung von Namen wie Bosch, Dürer, Flaubert, Maupassant, Fontane und Leistikow, der als der Letzte in der Reihe bereits seit über 100 Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Kalter Kaffee, verwehter Staub, ruhet in Frieden. Einige der Genannten kannten sicherlich die mit langer Belichtungszeit aufgenommenen Fotografien, die die damaligen Plätze der Städte und die Strände der Badeseen uns Nachgeborenen menschenleer erscheinen lassen. Aber niemand von Ihnen dürfte je ein bewegtes, technisch produziertes Bild gesehen haben, das als künstlerischer Ausdruck heute kaum Beachtung findet, aus dem Privat-Trivialen aber kaum noch wegzudenken ist. Mich interessiert mehr: Was bedeutet ein solches Video für die Zeitgenossin, den Zeitgenossen? Ist die Schleife, die hier gedreht wurde mehr als eine artifiziell überformte Banalität? Sind die fünf Bilder, die das Video transportiert, für uns bedeutsamer, als beispielsweise ein nie endendes Kaminfeuer, das als Ersatz für eine nicht finanzierbare bürgerliche Behaglichkeit über ungezählte Bildschirme flimmert? Die Fragen können kurz und eindeutig beantwortet werden: Ja! Jetzt, da die technische der anthropologischen Entwicklungsgeschwindig­keit uneinholbar enteilt ist, fordert dieses Video die Zeitgenossin und den Zeitgenossen auf, endlich wieder einmal innezuhalten — die Zeit, die Außenwelt und das eigene Ich wahrzunehmen. Und was das Tollste ist: Dieses Video macht sich selbst überflüssig, indem es uns auch auffordert, die virtuelle wieder durch unsere eigentliche Welt zu ersetzen. Zu dieser Erkenntis darf man kommen, ganz intuitiv und ohne endlosen Diskurs.

Manfred Carpentier, 2017

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Wolf Jobst Siedler : Lost in Spain

© Foto: Wolf Jobst Siedler | www.wolfjobstsiedler.de/

[...] das, was ich sehe, befand sich dort, an dem Ort, der zwischen der Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt liegt; es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden.

Roland Barthes: Die helle Kammer; Bemerkungen zur Photographie

 

Wolf Jobst Siedler erzählt gerne. Die Zeit, die man mit ihm verbringt, vergeht wie im Fluge, seine Erzählungen sind oft anekdotisch, aber immer auch sprachlich versiert und in kluger Einsicht formuliert. Der Einsicht zugrunde liegt nicht nur fundierte Bildung, sondern auch ausreichende Intellektualität, der man die ernsthafte Auseinandersetzung mit philosophischen Grundfragen ebenso anmerkt wie eine alles entspannende Fremd- und Selbstironie. Einer Verständigung im persönlichen Gespräch hilfreich ist eher die meines beinahe identischen Geburtsjahres als die Ähnlichkeit biographischer Etappen. Siedler wird als Sohn des gleichnamigen Wolf Jobst Siedler geboren. Er wächst auf in einer großbürgerlichen Berliner Verlegerfamilie, in deren Haus sich die intellektuelle und politische Prominenz die viel beschworene „Klinke“ in die Hand gibt. Er selbst, bei dem Versuch, den väterlichen Fußstapfen aus dem Weg zu gehen, studiert Geschichte und Philosophie in München, um schließlich doch über den Beruf des Lektors als Verleger in diese Fußstapfen zurückzufinden. Hier ausreichend erfolgreich, erlaubt er sich seit 2012 eine Beschäftigung, die sich „freiberuflicher Fotograf“ nennt.

Als Fotograf ist Wolf Jobst Siedler ebenso ein Erzähler. Das Artifizielle ist ihm fremd, er schafft aus vorhandenen keine neuen Wirklichkeiten, es fehlt das Vage ebenso wie das Spekulative und Assoziative. Er bildet vorhandene Wirklichkeiten ab und fügt sie über das Medium Fotografie narrativ zusammen. So wenigstens bei der hier vorgestellten fotografischen Arbeit „Lost in Spain“. Ob seiner Bescheidenheit oder ob seiner eigenen Unschlüssigkeit wegen überlässt er uns ohne Antwort der Frage, ob er nun mit einem thematisch vorgefertigten Konzept diese Wirklichkeit abbildet oder ob er die Wirklichkeit so vorfindet und daraus im Nachhinein eine Erzählung macht. Seine Fotografien zeugen jedenfalls von einer Wirklichkeit, die dem heutigen Spanienbesucher fremd vorkommen mag: es fehlen die überlaufenen Strände, die kein Spanier je betreten würde, nirgendwo Ballermann-Stimmung, keine die heimischen Essgewohnheiten nivellierenden Curry-Wurst-Buden, es finden sich auf den Fotografien auch nicht die architektonischen Greuel, die das europäische Freizeitverlangen industriell verwertbar machen.

Siedler nimmt uns mit in einem ausgebauten Kastenwagen, mit dem er einmal im Jahr für ein paar Monate Spanien bereist. Die Fotografien erscheinen uns wie die Stills eines Road Movies, die uns im Verschwinden begriffene Sehnsuchtsorte zeigen. Der Titel „Lost in Spain“ darf also dahin gedeutet werden, dass die Fotografie Siedlers, indem sie die vorgefundene Wirklichkeit abbildet, bereits auf ihren kommenden Verlust hinweist.

So erzählt Siedler in seinen melancholischen Fotografien vor allem von einer Vergänglichkeit, der sich nichts und niemand entziehen kann.

Manfred Carpentier, 2016

EDITION CARPENTIER

MANFRED CARPENTIER | TEXTE | WWW.MANFRED-CARPENTIER.DE

Neue Ziegeleimanufaktur Glindow - Eine Zeitreise -

© Foto: Manfred Carpentier | www.manfred-carpentier.de

Wie bei so vielem in Kunst und Leben kommt es darauf an, was Fleiß und Geschick aus dem Rohmaterial machen. Das Beste kann unvollkommen entwickelt, das Schwächste zu einer Art Vollkommenheit gehoben werden. So auch beim Ziegelbrennen. [...] Aber was ihnen ihre Vorzüglichkeit leiht, ist nicht das Material, sondern die Sorglichkeit, die Kunst, mit der sie hergestellt werden. Jedem einzelnen Stein wird eine gewisse Liebe zugewandt. Das macht’s.

Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg

 

Wer das Alter erreicht hat, dass er den Fall der Mauer bewußt erlebte und nach der »Wende« vor den in West-Berlin einfallenden freiheits- und konsumtrunkenen DDR-Bürgern für einen kurzen Ausflug in den »Osten« floh, fühlt sich auf dem Gelände der Ziegelei Glindow an diese Grenzüberschreitungen erinnert. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein. Weit mehr als ein Vierteljahrhundert lang.

Betritt man das Ziegeleigelände, sieht man vor sich einen großen geduckt wirkenden Ringofen, dessen gemauerte, schwarz-braune Außenhaut regelmäßig durchbrochen wird von halbrunden, ovalen Öffnungen, die wirken wie verschlossene Eingänge zur Unterwelt. Über dem gewaltigen Ziegelrund thront - getragen von einer leicht und luftig wirkenden Holzkonstruktion - das nur wenig über den Ofen ragende flache, mit schwarzen Ziegeln gedeckte Dach. Seitlich neben dem Ofen steht ein fast fünfzig Meter hoher Kamin, der vermutlich sofort zusammenbrechen würde, wenn man ihm eines seiner flachen Stahlbänder raubte, mit denen er gegürtet ist wie ein dicker alter Riese.

Die Anlage hat nichts von der fast klinischen Sterilität heutiger Industrieansiedlungen. Der Charme des Maroden ist an jeder Ecke unübersehbar. Gräser, Moose, Sträucher und Bäume wuchern von keiner gärtnerischen Anstrengung behelligt. Überall steigen Inseln aus mehr oder weniger altem Industrieschrott auf und die mit Produktionsresten von gebrannten und glasierten Ziegeln beladenen Paletten scheinen um diese Inseln zu treiben wie steuerlose Flösse. Die Gebäude stehen da als stolze Ignoranten der Gezeiten kontemporärer Architektur.

Im ganzen westlichen Havelland, dem Kernland der Mark Brandenburg, stößt man auf Ortsbezeichungen, die die Silbe »Glin« oder »Glien« im Namen führen. Der Begriff kommt aus dem Slawischen und heißt so viel wie »Ort, an dem es Lehm gibt«. Die Namensgebung von Dörfern, Städten, Brücken und gar Schlössern deutet auf die vielfältige Nutzung des Wortes »Glien« hin und ist ein Hinweis auf die Wertschätzung des einzigen veredelbaren »Rohstoffes« des Landes Brandenburg.

Das Brennen von Ziegeln als Baumaterial hat eine lange Tradition, sind doch Lehmziegel der älteste von Menschen geschaffene Baustoff. Im Berliner Pergamonmuseum ist ein herausragendes frühes Beispiel für die kunstvolle Ziegeleiarchitektur Mesopotamiens zu sehen. Dort wurde vor mehr als 2.500 Jahren das Ischtar-Tor aus farbig glasierten Ziegeln als ein Teil der Stadtmauer Babylons erbaut.

In Brandenburg mit einer eher landwirtschaftlich geprägten Infrastruktur trifft man eine gewerbliche Produktion von Ziegeln und anderen Gütern erst mit dem Mittelalter an. Ab dem 18. Jahrhundert siedeln sich vornehmlich in den Städten Manufakturbetriebe an, erste merkantile Beziehungen werden geknüpft. Von der Bildung gewerblich-frühindustrieller Strukturen kann bis dahin allerdings noch keine Rede sein. Erst mit dem schnellen Fortschreiten der industriellen Entwicklung Berlins, das bis 1900 zum größten deutschen Industriestandort wird, setzt auch für die Mark Brandenburg eine bisher nicht gekannte Entwicklung ein. Zum einen siedeln sich Industriebetriebe in der Mark an, zum anderen findet aus Brandenburg eine erheblich Randwanderung von Arbeitern in die Metropole Berlin statt. Infolge der Bevölkerungsverdichtung in Berlin steigt dort die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen, deren schneller Austausch durch den forcierten Ausbau der Verkehrsverbindungen auf Wasser, Schiene und Straße zwischen der Mark und dem Zentrum Berlin ermöglicht wird. Der Ausbau der Infrastruktur stellt also eine wichtige Voraussetzung für die industrielle Entwicklung auch Brandenburgs dar. Für die Industrialisierung der Mark Brandenburg spielt ebenso die Entwicklung der heimischen Baustoffindustrie eine erhebliche Rolle. Etwa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert steigt der Bedarf in Berlin an Ziegeln, Kalk, Mörtel, Gips, Glas und anderen Produkten, die für den Bau von Wohnungen und Gewerbegebäuden, exorbitant an. Es bilden sich in der Mark regionale Zentren gewerblich-industrieller Produktion heraus, die meist mit spezialisierten Produkten Berlin beliefern. Dachziegel kommen aus Rathenau, gelber Klinker aus Birkenwerder, Gips aus Sperenberg, Fensterglas aus Baruth, Ziegel aus Zehdenik und eben aus Glindow.

Die Glindower Ringöfen sind die zwei einzigen, original erhaltenen Ziegelöfen ihrer Art in Europa. Zu verdanken sind sie dem Erfindungsreichtum von Friedrich Eduard Hoffmann (1818–1900), der 1858 den sogenannten Hoffmannschen Ringofen zum Patent anmeldete.

Die Idee des Berliner Baumeisters Hoffmann war einfach und genial: Er ordnete eine Reihe von Brennkammern im Kreis an. Durch diese ließ er das Feuer hindurchwandern. War der Brennvorgang in einer Kammer abgeschlossen, wurde die nächste mit Brennstoff beschickt. Durch Luftkanäle erwärmten die gerade gebrannten Ziegel die Zuluft für das Feuer, trockneten und wärmten die noch ungebrannten Rohlinge vor. Gegenüber den beheizten Kammern befanden sich die jeweils kühlsten Kammern. Hier konnten die fertigen Ziegel entnommen und neue Rohlinge aufgefüllt werden. Das Feuer benötigte ein bis zwei Wochen, um die zehn bis 16 Kammern zu durchwandern.

Der Ofen, an dem in der Folge noch einige Verbesserungen vorgenommen wurden und dessen Form zum Oval abgewandelt wurde, revolutionierte die Ziegelherstellung grundlegend. In weniger als 15 Jahren erbaute Hoffmann, der für circa 30 Staaten das Patent darauf hatte, mit seinem ziegeltechnischen Planungsbüro um die 1.000 Ringöfen.

Das Hoffmannsche Prinzip der Ziegelherstellung hielt sich fast ein Jahrhundert. Erst ab Mitte der 1950er Jahre wurden die Ringöfen durch Tunnelöfen abgelöst, in denen nicht mehr das Feuer, sondern das Brenngut wandert.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann die hohe Zeit der Ziegelproduktion in der Mark Brandenburg und Glindow gehörte neben Rathenow und Zehdenick zu den bedeutendsten Ziegeleistandorten in der Region. Was allerdings heute - einem Romantisierungsbedürfnis folgend - unseren Blick verklärt, darf nicht über die unsäglich schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Ziegler der damaligen Zeit hinwegtäuschen. Die soziale Stellung der vielfach als saisonale Wanderarbeiter tätigen Ziegler befand sich auf gleicher oder niedrigerer Stufe mit denen von landschaftlichem Gesinde oder Tagelöhnern. Die Arbeitsbedingungen kann man schlicht als miserabel bezeichnen. 16 Arbeitsstunden waren Mitte des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit, die Temperatur an den Ringöfen betrug 50° bis 70° Celsius, die ausströmenden Rauchgase waren extrem gesundheitsgefährdend und die körperliche Belastung trotz zunehmender Mechanisierung exorbitant. Kinder- und Frauenarbeit war - insbesondere in saisonalen Spitzenzeiten - an der Tagesordnung. Bis auf die Bezahlung für qualifizierte Arbeitskräfte - Brenner, Setzer, Sümpfer, Streicher - reichte das Einkommen kaum für das Allernotwendigste. Untergebracht waren viele der Ziegler in Zieglerkasernen. Eine aus dem Jahr 1889 stammende polizeiliche Ordnung aus dem Kreis Templin sah für die Unterkunft einer Person mindestens 2 Quadratmeter Grundfläche und 7,6 Kubikmeter Luftraum vor. Das dürfte heute kaum für die amtlichen Bestimmungen zur Unterbringung kleinerer Haustiere ausreichend sein. Auch Metropolen wachsen eben nicht auf dem Rücken der durch die Geschichtsschreibung heroisierten Gestalten.

Werfen wir einen näheren Blick auf einen der beiden, circa 50 Meter im Durchmesser messenden Ringofen. Der Ringofen lässt sich auch von Besuchern betreten. Die Brennkammern mit ihren teilweise zugemauerten, mannshohen Öffnungen sind umgeben von einem Rundgang, der nur spärlich beleuchtet wird von einfallendem Sonnenlicht und zitterigen elektrischen Funzeln. In den geöffneten Kammern stapeln sich gebrannte Ziegel auf fahrbaren Metallgestellen zum Abkühlen. Die Luft hier ist stickig und heiß.

Plausibler wird die Funktionsweise des Ringofens, wenn man auf die runde Decke der Brennkammern steigt. Man erreicht sie über eine hölzerne Brücke, die aussieht wie der Zugang zu einer mittelalterlichen Burg. Trotz der offenen Bauweise des Daches wirkt der riesige Raum düster. Kreisrund sind hier Behälter angeordnet, die mit Kohlenstaub gefüllt sind und wie von einem nicht sichtbaren Dirigenten angehalten werden, ein atonales kakophonisches Konzert zu geben. Es ist das Surren von kleinen Motoren, das Rasseln von Ketten und das Ächzen von Metall, bei dem sich die Behälter nach unten öffnen und den Flammen dosiert Kohlenstaub zugeführt wird. In der Mitte des Daches befindet sich ein rechteckiger Verschlag, aus dem gelbliches Licht dringt. Hier muss der Dirigent sitzen. Aber der Verschlag ist verweist, eine elektrische Schalttafel blinkt, der Rest ist mit kohlenstaub bedeckter Sperrmüll. So sieht kein Pult eines Dirigenten aus.

In einer neueren Halle aus der Vorwendezeit stoßen wir auf technisches Inventar, das sich erfolgreich gegen jeden Investitionswillen hat behaupten können. Und wir stoßen auf Menschen. Eine resolute Frau mittleren Alters, die sich nicht schon wieder fotografieren lassen will, formt mit ihren Händen und Holzschablonen speziell gefertigte Ziegel, die sich der Standardproduktion entziehen. Sie gibt bereitwillig und freundlich Auskunft über ihr Tun und wirft dabei die Lehmstücke, die über den Rand der Schablone treten und von ihr abgeschnitten werden auf einen sich grotesk auftürmenden Berg. In die noch formbare weiche Masse drückt sie auf jeden Ziegel einen Stempel. Der Stückpreis eines solchen Ziegels kann leicht die 10 Euro-Marke überschreiten, sagt sie im stolzen Bewusstsein ihrer handwerklichen Fertigkeit. Weiter hinten in der Halle geht es wesentlich weniger filigran zu. Ein Trupp von sechs an Gesicht, Händen und Kleidung lehmverschmierter Männer macht deutlich, dass trotz einiger Technisierung die Herstellung von Ziegeln immer noch zum großen Teil aus schwerer Handarbeit besteht. Unentwegt schafft ein Förderband große Lehmklumpen herbei. Die »Batzen« werden mit erheblicher körperlicher Kraft in eine Holzform geschlagen und nachgedrückt, die überstehenden Ränder mit einem Draht abgestrichen und die so geformten Ziegel aus der Form herausgelöst. Als Trennmittel dient Wasser und Sand. Das verleiht den Handstrichziegeln ihre spezielle Oberflächenstruktur. Der Umgangston unter den Männern und mit dem neugierigen Frager ist so rauh wie die Struktur ihrer gebrannten Ziegel. An der Wand hängt eine Tafel, auf der mit Kreidestrichen das Soll und Haben ihrer Arbeitsleistung des Tages vermerkt ist.

Der heutige Besitzer und Geschäftsführer, Harald Dieckmann, der eigentlich ein Architekt aus Süddeutschland ist, hat die Ziegelei 2004 übernommen. Mit überschrittenen fünfzig Jahren und leichtem Bauchansatz fehlt diesem großen und ruhigen Mann gänzlich das Auftreten der einstigen, von Theodor Fontane beschrieben Ziegellords. In seinem schmucklosen Büro waltet er mit fast körperlich spürbarer Gelassenheit und man glaubt ihm sofort, wenn er die Führung dieser Ziegelei mit ihren 25 Mitarbeitern eher als eine persönliche Leidenschaft für Mensch und formbares Material begreift, denn als sich schnell amortisierende Kapitalinvestition. Dass versichert mir auch der Betriebsleiter, Herr Klünder, der sich hier im Brandenburgischen seinen rheinischen Dialekt nicht hat nehmen lassen. Ohne die in homeöpatischen Dosen gereichten regionalen Investionshilfen sei ein solcher Betrieb nicht zu führen. Er sei der technisch, Herr Dieckmann der künstlerisch Ambitionierte, den bei der Investition erheblicher Eigenmittel doch vor allem die kreativ gestalterischen Möglichkeiten der Ziegelproduktion interessiere.

Dass der Standort der Ziegelei behutsam für den Tourismus entwickelt wird, sieht man am Vorhandensein eines Ziegeleimuseums, das in einem sorgfältig restaurierten Ziegeleiturm unterbracht ist und an einem vorgelagerten Gebäude mit Blick auf den Glindower See, in dem Beispiele der aktuellen Ziegeleiproduktion präsentiert werden.

Und was hat es abschließend mit der Alpenstraße auf sich, über die man die Ziegelei Richtung Werder wieder verläßt? In unmittelbarer Nähe zum Ziegeleigelände liegen die sogenannten Glindower Alpen, eine zum Naturschutzgebiet erklärte Abraumhalde, deren teilweise 40 Meter tiefen Schluchten mit Mischwäldern aus Berg- und Spitzahorn, Hainbuche, Winterlinde, Esche, Rotbuche und Robinie bewachsen sind. Totholz wird nicht beräumt und ist von Moosen und Flechten überwuchert. Ein Besuch lohnt. Pädagogische Belehrung darf natürlich nicht fehlen.

Unsere Zeitreise endet profan: An einer zur Wurstbude umgebauten Tankstelle auf dem Weg durch Werder mit Thüringer, Schrippe, Senf und Kaltgetränk. Davon werden die Ziegler der Gründerzeit bei ihrem Tun in der täglichen Gluthitze allenfalls haben träumen können. Auch wenn sie es waren, die mit ihrer täglichen Hände Arbeit die Voraussetzung zur Entstehung der Metropole Berlin geschaffen haben. Hier dürfen wir uns wieder einmal mehr mit Goethe trösten: »Die jetzige Generation entdeckt immer, was die alte schon vergessen hat.« Das wird hoffentlich noch eine Weile so bleiben.

Manfred Carpentier, 2015

EDITION CARPENTIER

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Fasanenplatz #1

© Foto: Manfred Carpentier | www.manfred-carpentier.de

Der Westen, der früher einmal »Neuer Westen« hieß, ist im Sommer zu grün, um zu fotografieren. Zahllose Bäume versperren die Sicht auf die alten ebenso wie auf die neuen Bausünden, die die breiten Bürgersteige flankieren. Im Osten der Stadt, jetzt Mitte, dieser renovierten und blattlosen Wüste mit den durchnummerierten Quartieren, läßt es sich zu jeder Jahreszeit knipsen. Hier nicht! Hier wird gewartet bis zum Winter oder wenigstens bis der erste Frost gewaltige Schneisen ins schon farbige Laub geschlagen hat. Aber man muß an den Fassaden interessiert sein. An den Fassaden. Menschen gehen auch im Sommer. Damen sitzen in den Cafés mit offenen Blusen und hochgerutschten Röcken über haltlosem Bindegewebe. Herren tragen Segelschuhe an altersfleckigen, nackten Füßen und geben mit gespreizten Beinen Teilen des Geschlechts den nötigen Raum in Hosen aus teurem Tuch. Keine Gegend für junge Leute. Die ziehen lediglich in kleinen Trupps grölend durch die Straßen in Richtung Kurfürstendamm und deponieren ihren Plastikmüll vor dem Marmorschwulst der wuchtigen Hauseingänge. Im knappen Umkreis dieses Platzes wohnen die Arrivierten in rasant teurer werdendem Eigentum mit Doppelflügeltüren und Eichenparkett und es verweilen nur noch wenige soziale Randfiguren im Kokon ihrer uralten Mietverträge. Auch hier sind die Hülsen zum Überdauern älterer Entwicklungsstadien längst gefährdet: Häuser aus der Gründerzeit werden mit Botox vollgepumpt bis unters ausgebaute Dach, Gerüste wachsen selbst an den Fassaden mit Nachkriegswurfputz hoch und die als »Berliner Ecken« bekannten Flachbauten, die dem strategischen Bombardement der Alliierten im 2. Weltkrieg zu verdanken sind, werden gefüllt mit architektonischen Implantaten zweifelhaftester Modernität und Nachhaltigkeit. Dieser Gegend gehört meine Liebe. Hier werde ich weggetragen werden. Anonym. Irgendwo hin. In dieser Gegend gab nie eine Zeit, die man zum Anlegen von Friedhöfen hätte nutzen können. Bedeutend für diese Gegend war die Rolle des Kaufmanns, Landentwicklers und Unternehmers Johann Anton Wilhelm von Carstenn. Begeistert von der Idee, der Idylle und sicherlich auch dem pekuniären Potential englischer Villenkolonien erwarb er um 1870 die Ländereien des weit vor den Toren Berlins gelegenen Rittergutes Wilmersdorf. Hier plante er die erste, nach ihm »Carstenn-Figur« benannte städtebauliche Struktur mit einer Allee im Zentrum eines umlaufenden Straßenzuges, der von vier Schmuckplätzen eingefaßt wird. Ob er zu gierig war, ist nicht überliefert. Er scheiterte jedenfalls zeitgleich mit ähnlichen Projekten in Berlin-Friedenau und -Lichterfelde und starb - vorher noch von Kaiser Wilhelm I. geadelt - ohne nennenswertes Vermögen in einer Schöneberger Nervenheilanstalt. Die Idee einer Villenkolonie in Wilmersdorf war damit erledigt. Nach einer Inkubationszeit von circa 20 Jahren brach ab 1890 ein neuer Bauboom in Form einer Mietshausbebauung aus. Die war seinerzeit auf eine effiziente Verwertung der Grundstücke ausgelegt und verklärt heute den touristischen und eben auch den einheimischen Blick, sofern diese Bebauung nicht von kriegerischen oder stadtplanerischen Gräueln ausgelöscht wurde. Der Fasanenplatz liegt an der nordwestlichen Ecke der »Carstenn-Figur«. Wenn man nun einen reichlich buckeligen Kreis um den Platz zieht, der durch die fußläufige Erreichbarkeit aller Orte gekennzeichnet ist, die zum Erhalt meines Lebens notwendig sind, so braucht man im Norden über den Kurfürstendamm, im Osten über die Bundesallee, im Süden über den Hohenzollerndamm und im Westen - einiger gastronomischer Einrichtungen und dem Künstler Wolfgang Nieblich zuliebe - über die Pfalzburger Straße nicht hinaus. Jenseits dieser Straßen kann, geht es nach mir, die Erde abbrechen. Dann werde ich, vor allen Dingen nachts, wenn es dunkel und stiller geworden ist, erst recht keinen Schritt mehr über diesen im Augenblick nur imaginierten Rand hinaus machen.

Manfred Carpentier, 2015

EDITION CARPENTIER

MANFRED CARPENTIER | TEXTE | WWW.MANFRED-CARPENTIER.DE

Selfies

© Foto: Manfred Carpentier | www.manfred-carpentier.de

Was auffällt: nie war das Modeangebot massiver und aufdringlicher, die Wellen der Stile kurzatmiger und die Etats der Vermarktungsstrategien gigantischer. Im Gegensatz dazu zeigt das Straßenbild allerdings eine unverhohlene Uniformiertheit der von der Modebranche suggerierten Individualität. In ähnlicher Weise hat sich die postindustrielle Gesellschaft des Selbstporträts angenommen und aus ihm das Selfie gemacht. Auch hier führt die angebliche, aber lediglich phantasierte Aufwertung des Individums zur völligen Auslöschung individueller Züge. Um ein Bild zu gebrauchen: die sich selbst Fotografierenden stehen mit dem Rücken zentimeterdicht am Abgrund und treten noch einen Schritt zurück, um sich ins rechte Bild zu setzen. Der Überlieferung zufolge war der Auslöser dieser ebolagleichen Infektion ein australischer Jugendlicher, der wenigstens noch den Anstand besaß, sich für die technische Qualität seines Tuns zu entschuldigen: »And sorry about the focus, it was a selfie.« Den Rest besorgte eine ausschließlich an Quantität orientierte Industrie innerhalb der sogenannten »Sozialen Netze« mit Hilfe der Tranfunzeln des 21. Jahrhunderts: den Smartphones und Tablets. Die technologische Entwicklung, die zugunsten eines Wachstumsfetisches von der evolutionären Schrittgeschwindigkeit des Menschen abgekoppelt wurde, ist drauf und dran, die psychosozialen Grundbedürfnisse des Menschen durch technische Schimären zu substituieren. Das war einmal anders. Es begann mit der Fähigkeit, das sich in einer trüben Pfütze spiegelnde Gesicht als das eigene zu erkennen und das Ich dahinter zu imaginieren. Dieses Ich erreichte seine Befreiung mit dem Einsetzen der Aufklärung. Nicht erst durch das Aufkommen der Fotografie wurde seine Auflösung in Masse und Unterschiedslosigkeit eingeläutet. Bis zum Selfie aber war das Selbstportrait mehr als bloße Topographie in irgendeinem Kontext. Es war vor allem Ausdruck innerer Empfindungen bei der Beantwortung existentieller Fragen des nach Selbsterkenntnis suchenden Menschen und evozierte beim Gegenüber eine teilnehmende Auseinandersetzung, und nicht bloße Oberflächenwahrnehmung. Die aber transportiert das Selfie mit rasender Ausschließlichkeit. Der Fotografierte kann die medienimmanent reduzierte Wahrnehmung auch gar nicht verhindern und der Betrachter ist an tieferer Sicht nicht interessiert. Es bildet sich ein widerstandslos hingenommener Tummelplatz für banalsten Narzissmus und Voyeurismus. Folglich schwirren täglich Milliarden Selfies durch die von allem Sozialen sterilisierten Netze, mit dem Ergebnis einer weltumspannenden, psychosozialen Verwahrlosung. Denn wie lässt sich sonst erklären, wenn das eigene Wertgefühl von willkürlichen Mausklicks oder Likes sogenannter »Freunde«, von denen man den wenigsten einmal wirklich gegenüberstand, abhängig gemacht wird? Und nirgendwo ist die Erkenntnis der Bedeutungslosigkeit niederschmetternder als da, wo das Individuum versucht, der Trivialität der eigenen Person und seiner Lebensumstände mittels eines Selfies zu entkommen.

Manfred Carpentier, 2015

EDITION CARPENTIER

MANFRED CARPENTIER | TEXTE | WWW.MANFRED-CARPENTIER.DE

Cuban Coffee

© Foto: Manfred Carpentier | www.manfred-carpentier.de

Am Vorabend war ich in Miami, Florida gelandet. Die noch warme Luft schlug mir beim Verlassen des Flugzeugs entgegen. Angenehm, wenn man aus dem Berliner November kam und der Winter, der noch gar nicht angefangen hatte, schon jetzt viel zu lange dauerte. Mein Gastgeber begrüßte mich am Flughafen, nachdem ich in einer endlosen Prozedur die »Immigration« überstanden hatte. Das Abfertigungspersonal, ein wildes Gemisch aus Herkunft und Hautfarbe, freundlich und bis zum Äußersten gelassen, tat nur seinen Job, wenn es Fingerabdrücke nahm, Fotos machte, Formulare kontrollierte, Eingaben in den Computer tippte, um dann mit endloser Geduld auf irgendeine Ausgabe auf dem Monitor zu warten. Wir fuhren im offenen Wagen Richtung Miami Beach, vorbei an heruntergekommenen Holzbuden und verwahrlosten Vorgärten, in denen verwitterte alte Leute auf Sperrmüll saßen und teilnahmslos vor sich hinstarrten. Hinter den Buden schillerte schon die Skyline von Downtown Miami. Mein Begleiter und ich waren zum Thanksgiving bei einem amerikanischen Maler und seiner Frau eingeladen. Wir fuhren zu den Venetian Islands. Norman, ein figurativ-abstrakt-expressiver Maler, knapp achtzig Jahre, jüdischer Abstammung, buschige Balken über blitzenden Augen und poriger Nase. Seine Frau Nancy, gleich alt, früher in öffentlichen Ämtern, jetzt in Auflösung und Verfall. In den Räumen eine vielsprachige Sippe über alle Generationen, in der Küche wurstelte das dunkelhäutige Personal. Natürlich gab es Truthahn und ein undefinierbares Kompott. Die Stimmung war heiter bis ausgelassen, zwischen Nippes und Zuviel. Wir verabschiedeten uns nach dem dritten Martini, der zu neunzig Prozent aus Gin bestand. Die Nachtluft flog immer noch lauwarm über den verdecklosen Wagen. Hinter uns war die quietschige Skyline in schwarze Dunkelheit getaucht, vor uns stand die endlose Silhouette der vierzig Stockwerke hohen Strandhäuschen von Miami Beach. 5770 Collins Ave. Royal Embassy, 16. Stock. Hier wurde schon immer gerne übertrieben. Ich trank an der Balkonbrüstung stehend noch einen Schluck salzarmer Luft und tat auch noch etwas zur Sättigung des Auges. Meeresrauschen. Gute Nacht.

Guten Morgen. Der Kunststoff der Hurricane Shutter vor dem Fenster schlug unregelmäßig gegen Metall, grelle Lichtstreifen fielen auf die Zimmerwand. Die zweitausend Dollar teure Kaffeemaschine meines Gastgebers befand sich in einem Formtief. In ihr werkelte eine Technik, die vermutlich ausgereicht hätte, eine Apollo-Rakete aus den sechziger Jahren zum Mond zu schicken. Nach dem Anschalten forderte diese Technik zu diversen Wartungsläufen auf, röchelte, gurgelte und spie kloakenfarbiges Wasser aus. Danach versprach sie auf Knopfdruck etwas, das zu halten sie nicht imstande war: genießbaren Kaffee. Die Suche nach analogen Alternativen gestaltete sich ergebnislos. In den Schränken war nichts zu finden und an den Wänden hingen nur Abstraktionen von Stamos, Dessous von Kacere, Ärsche von Sieff und Schamhaare von Blum. Gemalt oder fotografiert. Nichts gegen den Kaffeedurst. Im Gegenteil. Ich verließ das Appartement. Der Aufzug rauschte die sechzehn Stockwerke hinunter. Vorbei am Doorman, ein grinsender Clooney. Verpasste Karriere! Raus auf die Collins Avenue. Links oder rechts? Ich entschied mich für Links. Ein Glück! Es waren genau zehn Blocks, die ich jetzt vierzehn Tage lang zu meinem morgendlichen Cuban Coffee ging und dazwischen Begegnungen hatte. Die Collins Avenue verlief an der »Königlichen Botschaft« hinter einer Häuserreihe im Abstand einer Grundstückstiefe vom Strand. Gelbe Fahrbahnmarkierungen betonten das Anthrazit des breiten und sauberen Asphaltbandes, auf dem die Schatten der Palmblätter wild wedelten. In regelmäßigen Abständen wucherten aus dem Belag der Bürgersteige die riesigen Ventile grellrot angemalter Hydranten. Auf halber Strecke gab ein spärlich bepflanzter kleiner Park den Blick auf den nahen Strand frei. Vereinzelt gab es noch die kleinen Motels, zwei Stockwerke hoch, in U-Form gebaut, mintfarben angepinselt. Einer dieser Restanten hieß »La Mimosa« und sah auch so aus: langsam zerbröckelnd und zerquetscht von den riesigen Appartement-Türmen mit ihrem Glas und ihren Balkonen und ihren phallischen Dachabschlüssen kurz vor dem blauen Himmel. Bedeutungsschwer und prestigehungrig stürzten an ihren Sockeln gewaltige Wasserfälle über polierten Stein. Die Schatten der Türme kreuzten Touristen und Residenten, Farbige und Weiße, Eilige und Langsame, Beschäftigte und Zeittotschläger, Jobber und Strandbesucher, Athleten und Fastfood-Verschlinger, Absichtsvolle und Flaneure, Straßenreiniger und Laubbläser. Das war das Futter für die Kamera, die unbemerkt in Höhe meines Oberschenkels schlenkerte, digital zielte, auslöste und speicherte.

Nach zehn Blocks und einer knappen halben Stunde Flanierens war ich angekommen. Der Laden, ein ranziger Schlauch aus Tresen, Pizzaöfen, Schachteln, Prospekt- und Serviettenständern, Besteckkästen, Spiegeln, Aluminiumtischen, Stühlen und Plastikblumen. Hinter dem Tresen knetete eine gewaltig breite, noch junge Südamerikanerin Teig. Das erste und letzte Mal sagte ich zu ihr einen vollständigen Satz: »I‘d like to have a cuban coffee!« Und dann: »What? Yes, with sugar. To go? No!« Ich legte einen Dollar und fünfundzwanzig Cent auf den Tresen. Wir näherten uns vierzehn Tage lang dem stummen Verstehen an, bis ich schließlich nur noch meinen Kopf durch die halb offene Aluminiumtüre steckte und nickend grüßte. An Santa Claus war es kurzzeitig aus mit der Routine - sie trug auf ihrem runden Kopf ein schrilles Rentiergeweih aus Kunststoff, das bei jeder Bewegung unsinnig wackelte. Ich grinste breiter als sonst und sagte irgendetwas wie »Happy Santa Claus Day«, ohne zu wissen, ob ein solcher Wunsch oder Gruß hier üblich war. Draußen ließ ich, wie vor einer panoramatischen Kulisse sitzend, eine Stunde lang Amerika an mir vorüberziehen. Links von mir eine nie geöffnete Spielhalle, gegenüber - wie an jeder Ecke in Miami - Walgreens, ein brüllender Warenkosmos, Alles und Nichts, Kopfschmerztabletten und Croissants. Auf der anderen Straßenseite schräg gegenüber das Deauville, 1964 einmal von den Beatles parfümiert und heute ein überholter Hotelklotz mit schwerem Achselgeruch. An seinen rechten Ausläufern eine Haltestelle mit vegetativen Gestalten, die viertelstündlich von einem Bus verschluckt wurden. Wieder auf meiner Seite, rechter Hand, hockte vor einem winzigen Supermarkt eine eingenässte Alte, die zum Inventar des Ladens zu gehören schien und die bereits vor dem Abwinken oder Kopfschütteln der Passanten ein fast lautloses »Sorry« über die Lippen brachte. Hier saß ich jeden Tag und trank einen in der Sonne nur langsam abkühlenden, unglaublich süßen Cuban Coffee, bevor ich mich über den weißen und menschenleeren Strand am Wasser entlang wieder auf den Rückweg machte.

Manfred Carpentier, 2015

EDITION CARPENTIER

MANFRED CARPENTIER | TEXTE | WWW.MANFRED-CARPENTIER.DE

Strassenfotografie und Digitalisisierung

© Foto: Frank Machalowski | www.machalowski.de.de

Die Digitaltechnik führt zu einer erheblichen Dynamisierung in der Stadt- und Straßenfotografie
Ein Gespräch mit dem Galeristen Manfred Carpentier von Pepper | Nov 13, 2014

Pepper: Seit dem Frühjahr widmest du dich in deiner Galerie der Berliner Stadt- und Straßenfotografie seit 1989, also seit dem Fall der Mauer. In insgesamt acht Ausstellungen mit je vier fotografischen Positionen zeigst du damit so etwas wie eine kleine Geschichte dieses Sujets für diesen Zeitraum. 2015 soll das Projekt dann mit einer Publikation abgeschlossen werden. Was hat dich zu dieser Ausstellungsreihe veranlasst?

Manfred Carpentier: Pepper! Was für eine Frage! (lacht). Die kurze Antwort lautet: Veranlasst hat mich mein Interesse am Thema. Die längere – allerdings kaum erschöpfende – Antwort lautet: Die Ausstellungsserie zum Thema „Stadt- und Straßenfotografie in Berlin“ startete im Frühjahr 2014 nach mehr als einem Jahr intensiver Vorbereitungszeit. Über 160 Fotografinnen und Fotografen wurden um die Einreichung ihrer Arbeiten gebeten. Eine Jury, der neben Ursula Kelm, Boris von Brauchitsch, Marc Barbey und Peter Fischer-Piel auch ich angehörte, wählte aus den Einreichungen 32 Arbeiten aus. Kriterium für eine Auswahl war neben der formalen und inhaltlichen Qualität der Arbeit ihre zeitliche Aktualität. Dabei war mit der zeitlichen Vorgabe „seit dem Fall der Mauer“ keine Jahreszahl gemeint, sondern eher der historische Impuls für eine umfassende Veränderung des Stadtbildes von Berlin und der soziokulturellen Präsenz der in ihr lebenden und agierenden Menschen. Das Medium Fotografie ist ja bestens geeignet, mit sowohl dokumentarischen als auch mit künstlerischen Mitteln solche „Zustandsbeschreibungen“ abzugeben oder besser: sie „einzufangen“. Neben meinem Interesse am Thema veranlasste mich der Gedanke, nicht nur eine einzelne Sicht oder Position zu zeigen, sondern die urbane Verschiedenartigkeit mit der Verschiedenartigkeit der fotografischen Sichtweisen zu parallelisieren. Schon jetzt – quasi zur Halbzeit der Ausstellungsserie – kann man behaupten, dass diese Idee trägt und funktioniert. Da liegt der Gedanke einer alle Positionen nebeneinanderstellenden Publikation doch recht nahe, zumal wenn es gelingen sollte, ein Haus zu finden, in dem alle Arbeiten gleichzeitig gezeigt werden können. Einen Abschluss sollen diese Aktivitäten allerdings nicht bilden, sondern eher die Fortschreibung eines fortlaufenden Projektes.

Pepper: Du planst also auch eine Gesamtausstellung der von dir in der Carpentier Galerie gezeigten Arbeiten in einem Museum oder einem Kunstverein? Soll sich diese Ausstellung nur auf die von Dir bereits vorgestellten Fotografen beschränken oder kannst Du Dir vorstellen diese noch um weitere Fotografen oder gar um historische Aspekte der Berliner Straßenfotografie zu erweitern?

Manfred Carpentier: Ich sitze da zur Zeit noch an der Erarbeitung eines tragfähigen Konzeptes. Die geplante Ausstellung aller Arbeiten in einem Haus und die Publikation betrachte ich als Gesamtheit. Es wird darum gehen, einen Ausstellungsort und einen Verleger zu finden sowie Autoren zu gewinnen, die sich nicht nur mit den fotografischen Arbeiten dieser Ausstellung auseinandersetzen, sondern das Thema Stadt- und Straßenfotografie in Berlin in einen historischen und aktuellen Kontext stellen. Aber auch die Wiederbelebung Berlins zur Metropole sollte nicht nur fotografisch, sondern auch essayistisch abgebildet werden. Weitere aktuelle fotografische Positionen, die nicht älter als zehn Jahre sind, in der Ausstellung zu zeigen und in die Publikation aufzunehmen, halte ich für denkbar.

Pepper: Als ihr, also Du und die anderen Mitglieder der Jury, die eingereichten Fotografien gesichtet habt – es waren ja Arbeiten von eingeladenen als auch von sich selbständig bewerbenden Fotografen dabei -, ist euch da so etwas wie ein Trend aufgefallen, eine Art von zeitgeistiger Straßenfotografie? Oder habt ihr es ausschließlich mit individuellen Blicken zu tun gehabt, aus denen ihr dann die interessantesten ausgewählt habt?

Manfred Carpentier: Das ist eine interessante Frage, die ich mir auch schon gestellt habe. Im Grunde kreist diese Frage um den zentralen Punkt der Ausstellungsserie. Ich bin kein Fotohistoriker, der eine entsprechend fachlich kompetente Antwort geben könnte. Auch für die anderen Jurymitglieder kann ich nicht sprechen. Ich beantworte diese Frage also aus meiner ganz persönlichen, unverbildeten Sicht. Erst einmal haben wir in den letzten Jahren in der Fotografie einen enormen Technologiewandel erlebt. Die Etablierung der Digitalfotografie dürfte im Bereich der Stadt- und Straßenfotografie ähnliche Auswirkungen haben, wie die Einführung der Kleinbild-Leica vor genau einhundert Jahren. Nicht nur die damalige künstlerische und journalistisch-dokumentarische Avantgarde hat sich durch Handhabbarkeit der technischen Ausstattung inspirieren lassen. Fotografie wurde nun – und das ist vielleicht der entscheidende Aspekt – ein „demokratischeres“ Medium, dessen Einsatz einer wesentlich größeren Anzahl von Interessierten möglich war. Die Folge war eine Verbreiterung und Differenzierung der fotografischen Gattungen und Sujets, ihrer theoretischen Durchdringung sowie der Entstehung von fotografischen Strömungen und Schulen. Die Digitalfotografie führt nun erneut zu einer erheblichen Dynamisierung auch im Bereich der Stadt- und Straßenfotografie sowohl in der Bildfindung und -sprache, als auch in den Präsentationsformen der Fotografie. Zugleich ist bei den Fotografen eine starke Differenzierung und Individualisierung feststellbar, die eher eine Entfernung von traditionellen Strömungen zum Ausdruck bringt. Um also auf die Frage zurück zu kommen. Eine Art zeitgeistige Straßenfotografie habe ich in den eingereichten Arbeiten der Fotografinnen und Fotografen nicht entdecken können. Entdecken kann man jetzt in der Ausstellungsserie eine große Vielfalt in der fotografischen Auseinandersetzung mit der Stadt Berlin. Sie reicht von der künstlerischen bis zur dokumentarischen, von der konzeptionellen bis zur augenblicksorientierten, von der narrativen bis zur abstrakt ästhetischen Fotografie. Das Wunderbare an der Stadt- und Straßenfotografie ist ja, dass bei entsprechendem zeitlichen Abstand die Bilder zu zeithistorischen Dokumenten werden, die auch immer ein stückweit den Zeitgeist transportieren und überliefern. Es wäre ein großes Kompliment, wenn in 20 oder 30 Jahren jemand in den einzelnen Positionen dieser Ausstellungsserie die Ansätze einer zeitgeistigen Fotografie zu Beginn des 21. Jahrhunderts wiederfände, wenn wir darunter zeitgemäße Form, Technik, Stil und Strömung verstehen.

Pepper: Bei der Auswahl der letztendlich an dem Ausstellungszyklus beteiligten Fotografen, war sich die Jury schnell darüber einig, welche der eingereichten Positionen in der Galerie präsentiert werden sollten?

Manfred Carpentier: Na ja, das war ja kein Abstimmungsprozess, so wie man sich das vielleicht vorstellt: Da sitzt eine Gruppe von Menschen über einem riesigen Stapel mit Fotografien und diskutiert nächtelang bei ordentlich Wein und Nikotin. So viel Zeit hat ja heute kein Mensch mehr. Nein. Die Einreichungen der Fotografinnen und Fotografen erfolgten digital per Online-Formular, die Jurymitglieder erhielten die aufbereiteten Dokumente und bewerteten die eingereichten Arbeiten im Rahmen eines Punktesystems. Die Entscheidung, welche Positionen in der Galerie präsentiert werden sollten, erfolgte einfach durch die Addition der vergebenen Punkte. Wichtig für eine ausgewogene Entscheidung war mir vor allen Dingen im Vorfeld die Zusammensetzung der Jury mit ausgewiesenen Fachleuten. So unspektakulär die Entscheidungsfindung vielleicht gewesen sein mag, so spannend war die eher kuratorische Arbeit, jeweils vier Positionen zu einer Ausstellung zusammenzufügen. Bei dieser Arbeit hat mich das Jurymitglied Peter Fischer-Piel maßgeblich unterstützt. Ihn konnte ich auch für das Vorwort eines kleinen Katalogs und für die Eröffnungsrede der Ausstellungsserie gewinnen. Das alles kann auf der Webseite der Galerie unter der Adresse www.carpentier-galerie.de eingesehen werden.

Pepper: Wie sind denn die acht Ausstellungen jeweils konzipiert?

Manfred Carpentier: Hier will ich aus verständlichen Gründen nicht allzu sehr ins Detail gehen. Aber erst einmal ging es darum, innerhalb der Ausstellungsserie einen bestimmten Rhythmus zu finden. Einen Auftakt, ein Ende, und es gab ja mit einer Ausstellung im Rahmen des Monats der Fotografie einen Termin mit der sicherlich stärksten Resonanz in den verschiedenen Medien. Dem galt es Rechnung zu tragen. Es wurde also erst einmal ein „äußerer“ Rahmen abgesteckt. Innerhalb dieses Rahmens, also bei der Konzeption der einzelnen Ausstellungen, wurde angestrebt, die Verschiedenartigkeit der Positionen in ihrer thematischen wie formalen Ausprägung deutlich werden zu lassen. Nehmen wir doch einmal als Beispiel die Arbeiten, die während des Monats der Fotografie gezeigt werden. Silva Sinha dokumentiert in ihrer Farbserie „Brandmauern“ nicht vordergründig die Architektur Berlins, sondern zeigt uns in eher grafisch-malerischen Erscheinungsbildern ihre Eigenästhetik. Stephanie Steinkopf – in ihrer Konzeptualität am weitesten von der klassischen Stadt- und Straßenfotografie entfernt – fügt in einem Veränderungen unterworfenen städtischen Raum fotografische Porträts mit biographischen Anekdoten sowie textlichen Informationen zu einem Ganzen zusammen. Eric-Jan Ouwerkerk ist ein Vertreter der klassischen Straßenfotografie, ein Beobachter und Geschichtenerzähler, der uns in seinen „Short Stories“ kleine Skurrilitäten und poetische Momente aus dem Alltag der Metropole erzählt. Frank Silberbach wiederum hat in seinem 2004 begonnenen Langzeitprojekt BERLIN 140° die klassisch-dokumentarische Schwarzweiss-Fotografie durch den Gebrauch der Optik einer Panoramakamera erweitert. Ich glaube, an diesem Beispiel wird die Verschiedenartigkeit der fotografischen Positionen deutlich, die in der Ausstellung selber noch einmal durch die Unterschiedlichkeit der formalen Präsentation der Fotografien unterstrichen wird. Wenn es gelungen ist, in den einzelnen Ausstellungen diese Vielfalt, aber auch ihre Gleichberechtigung zu zeigen, darf man darauf hoffen, dass einmal von einer erfolgreich kuratorisch konzipierten Ausstellungsserie die Rede sein wird.

Pepper: Gibt es Fotografen, die einen für dich völlig unerwarteten Blick auf Berlin dokumentiert haben?

Manfred Carpentier: Ich glaube, dass ist eine Frage, die sich so weder stellen noch beantworten lässt. Was ist mit einem „unerwarteten Blick“ denn gemeint? Eine bisher inhaltlich oder formal noch nie da gewesene Sichtweise auf die Stadt und ihre belebte und unbelebte Natur oder ein phänomenales Thema? Ich könnte eine Frage beantworten, die dahingeht, welche Positionen ich formal, inhaltlich und ästhetisch am interessantesten finde. Das will ich aber erst tun, wenn die Ausstellungsserie abgeschlossen ist und ich alle Exponate in ihrem kontextuellen Zusammenhang und als Originale gesehen habe. Im Augenblick – und da wiederhole ich mich gerne – ist für mich die Verschiedenartigkeit der Sichtweisen innerhalb der Ausstellungsserie von größerer Bedeutung als ein einzelner Blick, eine einzelne Sicht oder Position.

Pepper: Gibt es Fotografen, die ihr gerne dabeigehabt hättet, die aber – aus welchem Grund auch immer – nicht im Rahmen dieser Ausstellungsserie in deiner Galerie zu sehen sein werden? Fotografen, die dann vielleicht in der geplanten institutionellen Präsentation dabei sein sollen?

Manfred Carpentier: Ja, natürlich. Bei einigen Fotografinnen und Fotografen habe ich sehr bedauert, dass sie gar nicht an der Ausschreibung teilgenommen haben, obwohl sie eingeladen worden waren. Ohne Namen zu nennen, betraf das kurioserweise zum einen die etwas älteren Fotografinnen und Fotografen, die sich teilweise mit dem doch sehr technischen Einreichungsverfahren nicht haben anfreunden können. Zum anderen betraf es aber auch jüngere Fotografinnen und Fotografen, deren bevorzugte Präsentationsform gar nicht mehr der traditionelle Print an der Wand ist, sondern die ihre Arbeiten fast ausschließlich im Netz zeigen. Nicht zuletzt wurden – aus welchen Gründen auch immer – interessante Positionen mit den dahinter stehen Fotografinnen und Fotografen gar nicht eingeladen oder wahrgenommen. Das zeigt ja auch, wie erfreulich groß die Anzahl derer geworden ist, die sich ernsthaft dem Thema Stadt- und Straßenfotografie in Berlin widmen. Die geplante institutionelle Präsentation wäre eine schöne Gelegenheit, das bisher schon breite Spektrum an Arbeiten zu erweitern, genauso, wie das die geplante Publikation leisten könnte und auch sollte.

Pepper: Am 23. November wirst du in der Galerie einen Buchmarkt veranstalten, auf dem aktuelle und antiquarische Bücher über die Berliner Stadt- und Straßenfotografie zum Verkauf angeboten werden. Wie kam es zu dieser Idee?

Manfred Carpentier: Erst einmal sind es fast ausschließlich aktuelle Verlagsproduktionen, die im Rahmen von „Berlin Photo Book“, dem 1. Berliner Büchermarkt zur Stadtfotografie zum Verkauf angeboten werden. Es werden aber auch Fotobücher erhältlich sein, die im Selbstverlag erschienen sind und teilweise im Rahmen von Publishing on Demand produziert werden. Das Wesentliche an dieser Veranstaltung soll sein, allen am Thema „Berliner Stadt- und Straßenfotografie“ Interessierten Gelegenheit zu geben, persönlich mit den Fotografen ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen und ein signiertes Buchexemplar erwerben zu können. Natürlich steht auch der Gedanke dahinter, den Fotografen die Möglichkeit zu geben, ihre Bücher zu bewerben und bei Verkauf einen größeren Anteil der Einnahmen zu erhalten, als das gemeinhin bei Verkäufen über den Buchhandel üblich und möglich ist.

Die Idee zu „Berlin Photo Book“ kam im Übrigen von den Fotografen selbst. Als Initiatoren sind insbesondere Frank Silberbach und André Kirchner zu nennen. Die Galerie stellt lediglich ihre Räume für diese Veranstaltung zur Verfügung.

Ich sehe in dieser Veranstaltung eine erste Initiative, die den Kerngedanken des Ausstellungsprojektes der Galerie weiterträgt. Nämlich kein singuläres und abgeschlossenes Ereignis zu sein, sondern ein sich entwickelndes Forum für all diejenigen, die mit ihren fotografischen Arbeiten zum Entstehen eines Gedächtnisses dieser wunderbaren Stadt Berlin für die nachfolgenden Generationen beitragen.

Manfred Carpentier wurde 1954 in Gerolstein / Eifel geboren, wuchs in Leverkusen auf und lebt seit 1975 in Berlin. 2010 gründete er in Berlin-Wilmersdorf eine Privatgalerie. Unter dem Titel „Berlin Photography“ führt die Carpentier Galerie 2014/2015 eine Ausstellungsreihe zur aktuellen fotografischen Auseinandersetzung von Fotografinnen und Fotografen mit der Stadt Berlin durch. Carpentier ist Herausgeber einer Edition von Fotokünstlerbüchern und Publikationen anderer Verlage. Er ist auch als Autor und Fotograf tätig.

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